Die grausame Massenvergewaltigung in Indiens Hauptstadt zu Ende des Jahres hat im ganzen Land Entsetzen und heftige Diskussionen ausgelöst. Das Phänomen der Gewalt gegen Frauen prägt das moderne Indien jedoch schon seit Jahrzehnten, berichtet von einem Recherche-Aufenthalt Brigitte Voykowitsch.
Die Vergewaltigung einer 23-jährigen Medizinstudentin durch mehrere Männer in einem Bus in Neu-Delhi hat Indien aufgerüttelt. Die junge Frau erlitt dabei schwerste innere Verletzungen, denen sie 13 Tage später erlag. Es war einer der grausamsten Fälle von Gewalt gegen Frauen in der jüngsten Zeit. In den erregten Debatten im Fernsehen und unter den DemonstrantInnen auf der Straße wurden härteste Strafen für Sexualverbrecher – von der chemischen Kastration bis zur Todesstrafe – gefordert. Viele Menschen verlangten Sondergerichte, an denen Prozesse in Vergewaltigungsfällen zügig verhandelt werden sollten.
Doch in das Entsetzen mischten sich sofort auch Stimmen, die zeigten, wie tief verwurzelt die Frauenfeindlichkeit in Indien ist. Mehrere Politiker fragten in aller Öffentlichkeit, was Frauen zu später Stunde auf der Straße verloren hätten, oder deuteten an, dass Frauen, denen Gewalt widerfahre, selbst Fehler begangen haben müssten. Ein Politiker nannte als einzig mögliche Erklärung für die Gewalt gegen Frauen die ungünstige Sternenkonstellation. Ein Guru gab der jungen Frau die Mitschuld an dem Verbrechen, weil sie ihre Angreifer nicht als religiöse Brüder angesprochen und um Gnade gefleht habe.
Den Frauen in Indien beweisen alle diese Kommentare: Ihr Kampf gegen die religiös sanktionierten und patriarchalen Strukturen und für ihre eigenen Rechte wird lange und schwierig sein.
Eine Reihe von Frauen warf die Frage auf, warum es so lange gedauert hatte, bis sich Inderinnen – und auch Inder – landesweit zu Großkundgebungen gegen die Gewalt an Frauen zusammen fanden. Alle 22 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt – Statistiken dieser Art sind nicht neu. Die Verurteilungsrate ist sehr gering, das ist ebenfalls altbekannt. Delhi ist die Hauptstadt der Vergewaltigungen – auch dieses Faktum steht seit Jahren fest. Dazu hatte es in den vergangenen zwei, drei Jahren eine Serie von Gewaltfällen gegeben, die zwar für mediales Aufsehen gesorgt, aber keine Massendemonstrationen ausgelöst hatten. Manche InderInnen konterten sofort, dass Fragen wie „Warum erst jetzt?“ oder „Warum dieser Fall?“ irrelevant seien, Hauptsache sei, dass sich endlich eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung zu formieren scheint. Wie stark, konsequent und erfolgreich sie sein wird, bleibt ohnedies noch abzuwarten.
Andere Frauen ließen dagegen nicht locker und sprachen schwierige Aspekte an: War das Entsetzen in diesem Fall vielleicht auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Vergewaltigung sich in Süd-Delhi ereignete und eine Studentin betroffen war? „Warum schockieren Vergewaltigungen von Dalits, den ehemals Unberührbaren, von Frauen aus ethnischen Minderheiten oder Frauen im Nordosten Indiens uns nicht so, dass wir sagen: Es reicht!“, schrieb Shoma Choudhury im Magazin „Tehelka“, das für seinen investigativen Journalismus bekannt ist. Die Antworten auf all diese Fragen sind so vielfältig wie die Weltanschauungen und gesellschaftlichen Positionen derer, die sie geben.
Vergewaltigung war eines der zentralen Themen, dessen sich die in den 1970er Jahren neu entstandene indische Frauenbewegung von Anfang an annahm. Proteste organisierte die Bewegung insbesondere auch gegen die Vergewaltigung von Frauen aus niederen Kasten durch Grundbesitzer sowie in Polizeigewahrsam und in Gefängnishaft. Riesige Proteste löste 1974 die Vergewaltigung von Mathura, einem minderjährigen Mädchen aus einer ethnischen Minderheit, durch zwei Polizisten aus. Die Täter wurden damals freigesprochen, weil das Mädchen, wie betont wurde, bereits mit ihrem Freund regelmäßig Sex gehabt hatte und daher einen schlechten Charakter habe. Daher, so die Urteilsbegründung, müsse man davon ausgehen, dass sie nicht die Wahrheit gesprochen habe.
Kaste und Klasse spielten auch im Fall Bhanwari Devi eine Rolle, erzählt Pratiksha Baxi, Professorin für Soziologie an der Jawaharlal Nehru-Universität in Neu-Delhi. Bhanwari Devi sollte im Rahmen eines Frauenförderprogramms gegen Kinderheirat in den Dörfern von Rajasthan ankämpfen. Nachdem sie gegen eine Eheschließung unter Kindern protestiert hatte, wurde sie 1992 vor den Augen ihres Mannes von drei hochkastigen Männern vergewaltigt. Die Täter wurden vom Gericht freigesprochen mit dem Argument, dass vernünftige Männer aus höheren Kasten nie eine Frau aus einer niedrigen Kaste – so wie Bhanwari Devi – vergewaltigen würden. „Das widersprach natürlich allen nachweisbaren Fakten. Es gab damals riesige Proteste. Doch Bhanwari Devi erhielt keine Gerechtigkeit.“
Dies sind nur zwei aus einer unendlich langen Reihe von Fällen, derer sich die Frauenbewegung – häufig erfolglos – in den vergangenen vier Jahrzehnten angenommen hat. Und viele Fälle ereignen sich auch heute noch „Es hat sich etwas geändert seit Mitte der 1970er Jahre, es gibt ein Bewusstsein und es wird über Gewalt an Frauen berichtet. Auch eine Reihe neuer Gesetze wurde verabschiedet. Doch das Problem ist nicht kleiner geworden. Ganz im Gegenteil. Die Frauen haben bloß erst jetzt das Ausmaß der Gewalt in ihrem vollen Umfang erfasst“, betont die Soziologin Radhika Chopra von der Delhi-Universität.„Unerklärlich bleibt, warum die Gewalt oft so extreme Formen annimmt. Fest steht aber, dass die Gewalt alle Frauen betrifft, unabhängig von Kaste, Klasse und sonstiger Zugehörigkeit.“
Feministinnen – nicht nur in Indien, sondern weltweit – führen drei grundlegende Fakten für dieses Phänomen an: Frauen haben traditionell einen niedrigen Status; die Ehre der Familie wird über den Körper der Frau verhandelt; gesellschaftspolitische Konflikte werden über den Körper der Frau ausgetragen.
In Indien beginnt die Gewalt gegen Frauen schon vor der Geburt, wenn weibliche Föten abgetrieben werden, weil die Eltern Söhne bevorzugen. Denn Söhne erfüllen wichtige religiöse Rituale. Sie sind die Stammhalter, während Töchter in andere Familien einheiraten und eine große Mitgift benötigen. Von Vergewaltigung durch Verwandte, Familienfreunde und Bekannte sind dann nicht nur Mädchen und unverheiratete Frauen bedroht. Zu Vergewaltigungen kommt es auch in der Ehe. Viele verheiratete Frauen werden zudem Opfer von Mitgiftmorden, an denen immer wieder auch die Schwiegermütter beteiligt sind. Dazu kommen gelegentliche Fälle von Sati, Witwenverbrennung.
Umso absurder mutet die Reaktion von Mohan Bhagwat, dem Vorsitzenden der einflussreichen Hindu-fundamentalistischen Organisation RSS, auf die Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin im Dezember in Neu-Delhi an. Dem Politiker zufolge gibt es Vergewaltigungen nur in den Städten, in denen sich die Verwestlichung der Gesellschaft negativ auswirke. Die traditionelle Hindu-Gesellschaft hingegen bringe den Frauen Achtung entgegen. Mohan Bhagwat brachte eine in Indien häufige Differenzierung zwischen „India“ und „Bharat“ ins Spiel. „India“, der englische Name für Indien, steht für den ökonomisch aufsteigenden, modernen und urbanen Teil des Landes, inklusive seiner neuen Freiheiten. „Bharat“, das Hindi-Wort für Indien, bezeichnet das traditionelle, ländliche Indien, dem weiterhin an die 70 Prozent der Bevölkerung angehören. Für die einen symbolisiert „Bharat“ alles Rückständige, für andere bedeutet „India“ eine Art von „un-indischem“ Fortschritt, kurz: eine Entwicklung, die überkommene gesellschaftliche Strukturen in Frage stellt.
Obwohl Gewalt gegen Frauen in der Familie allgegenwärtig ist, folgen auf Vergewaltigungsfälle häufig patriarchale Reaktionen, die eine strengere Aufsicht über die Frauen fordern. Indu Agnihotri, Leiterin des Centre for Women’s Development Studies in Neu-Delhi, spricht von einem weit verbreiteten Widerstand gegen gesellschaftliche Veränderungen, gegen moderne und demokratische Werte.
Die demokratische Verfassung, die sich Indien nach der Unabhängigkeit 1947 gab, sieht einen modernen säkularen Staat vor, in dem alle Menschen – Männer und Frauen – gleiche Rechte haben. Tatsächlich hat sich in den vergangenen sechseinhalb Jahrzehnten viel verändert. Einstmals rechtlose und marginalisierte Gruppen kämpfen – teils durchaus mit Erfolg – um sozialen Aufstieg. Frauen, Dalits, niedrige Kasten und ethnische Minderheiten engagieren sich für die Durchsetzung ihrer in der Verfassung festgeschriebenen Rechte. Frauen machen in immer mehr Bereichen Karriere, eine steigende Zahl junger Frauen geht mit großem Selbstvertrauen ihren Weg. Junge Frauen studieren, wählen selbst ihren Beruf, verdienen gut, sind zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs, gehen mit Freunden aus und reisen auch alleine. Laut offiziellen Statistiken sind in den Städten heute 26% der Frauen berufstätig, im ländlichen Raum sind es 13%.
Berufstätige Frauen und Studentinnen sind allerdings im öffentlichen Raum ebenso wie am Arbeitsplatz respektive am Universitätscampus ständiger Gefahr ausgesetzt. In den vergangenen Jahren wurden wiederholt Studentinnen am Campus vergewaltigt. Frauen aus der IT-Branche wurden von Chauffeuren oder anderen Bediensteten vergewaltigt und ermordet. Frauen, die mit FreundInnen aus Pubs kamen, wurden angegriffen. Sexuelle Belästigung ist allgegenwärtig.
„Alte feudale, patriarchale und religiös sanktionierte Strukturen werden auf allen Ebenen in Frage gestellt“, sagt Indu Agnihotri. „Als Reaktion auf die emanzipatorischen Bewegungen rücken viele Gruppen enger zusammen, um ihre Macht und ihren Besitzstand zu verteidigen. Seit den 1980er Jahren sind religiöse fundamentalistische Strömungen sowohl bei den Hindus als auch bei den Muslimen erstarkt. Überall können wir diesen Widerstand gegen den gesellschaftlichen Wandel beobachten.“
Wie viele andere Frauen verweist Indu Agnihotri aber auch auf die zahlreichen Konflikte, die das neoliberale Wirtschaftsmodell, dem sich Indien Anfang der 1990er Jahre verschrieben hat, verursacht. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich führe zu immer mehr Gewalt. „Und je mehr Gewalt es insgesamt in einer Gesellschaft gibt, umso stärker sind auch die Frauen betroffen.“
Brigtte Voykowitsch ist freie Journalistin mit Spezialisierung auf Indien. Sie lebt in Wien.
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